Gastvortrag von Géza Gábor Simon am 9. Dezember 1992 auf der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Graz. Institut für Jazzforschung
Trotz des stetig steigenden Interesse an den Wurzeln ausseramerikanischer, regionaler Jazzentwicklungen fehl bisher eine umfassendere, rezeptionsgeschichtliche Betrachtung der für die jeweilige Region spezifischen Grundlagen, auf welche frühe afro-amerikanisch geprägte musikalische Ausdrucksformen stiessen. Rainer E. Lotz hat aber z.B. 1987 anhand einiger von europäischen Komponisten stammender Rag-Kompositionen darauf hingewiesen, dass "Ragtime in Europe" von anderen Bezugspunkten her verstanden werden muss als "Ragtime in Amerika". Hier soll versucht werden, zunächt eine vorrangig rezeptionsgeschichtlich orientierte Sichtweise einzunehmen und von da aus zu beschreiben, unter welchen besonderen Voraussetzungen, in welchem Rahmen und Ausmass sich einschlägige musikalische Amalgamierungsprozesse in Österreich und Ungarn vollzogen haben. Der behandelte Zeitraum soll ungefähr das Jahrhundert von 1825 bis 1925 umfassen: von der Etablierung bürgerlicher Unterhaltungskultur bis zu ihrer allmählichen Verdrängung oder Überformung durch grossstädtische Formen der Unterhaltung, in einer Gesellschaft, die in zunehmenden Masse von den Mechanismen und Folgen kapitalistischer Errungenschaften geprägt wurde. Zwischen traditionell-bodenständigen und fremden (exotischen) Produkten der Musik und der darstellenden Kunst kam es zu jener Zeit bald zu ersten Wechselwirkungen. Nach den jeweiligen politischen, gesellschaftlichen oder auch wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gestalteten sich diese Wechselwirkungen verschiedenartig. Für Österreich-Ungarn (d.h. alle Länder der damaligen Doppelmonarchie) erfolgt eine Beschreibung diesbezüglicher musikkultureller Interaktionen recht zweckmässig in Form einer dreiteiliger Chronologie:
1. Bis 1867, dem Jahr des "Ausgleichs" zwischen Österreich und Ungarn, ist ein deutlich steigendes populär-modisches Interesse an afrikanischen, afro-amerikanischen und im weiteren Sinnen exotischen Kulturerscheinungen zu beobachten. In populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen, der Errichtung von "Menschenschauanstalten", letztlich auch in Theater und Musik findet dieses Interesse Ausdruck und Befriedigung.
2. Ab 1867, drei Jahre nach Abschaffung der Sklaverei in den USA, gelangten vorerst nur sporadisch, später jedoch geradezu massenhaft farbige Künstler aus den USA (meist Entertainer aus der Minstrel-Tradition) auf europäische und somit auch auf österreichisch-ungarischen Varietébühnen. Um die Jahrhundertwende ist das Varietétheater Hauptdistributor afro-amerikanischen Kulturgutes in der Monarchie. Neben Militärorchestern und Salonkapellen gewinnt die Schallplatte eine Bedeutung in der Verbreitung amerikanisierter Pop-Musik. In österreichischen, offenbar aber besonders in ungarischen Musikverlagen erscheinen zahlreiche Adaptationen amerikanischer Tin-Pan-Alley-Schlager mit deutschen und/oder ungarischen Texten. Daneben versuchen sich auch schon einzelne einheimische Komponisten der kommerziellen Unterhaltungsmusik im Schreiben von original Cake-Walks, Negerliedern, afrikanischen Intermezzos, usw.
3. Nach der kriegsbedienten Cäsur (1914-1918) werden ab 1919 die Begriffe
"Jazz", "Foxtrot" und erneut "Ragtime" zum Synonym für populäre, rhytmische und meist exotisch bzw. amerikanisch gefärbte Tanz- und
Unterhaltungsmusik. Viele Österreichische Tanzschlager tragen einen dieser Begriffe im Titel oder im Untertitel. Sowohl die Kompositionen selbst als auch deren Aufführungspraktiken (etwa mitteils Salonorchester) entsprechen jedoch bis weit in die 20er Jahre hinein in wesentlichen den nach Tin-Pan-Alley-Schema produzierten und vertriebenen Ragtime-Derivaten der Vorkriegszeit. Dementsprechend ist auch die musikalische Qualität original österreicher oder ungarischer Ragtime-Kompositionen unterschiedlich. Bis 1925 formieren sich bereits einige Orchester, die sich ausdrücklich "Jazzband" nennen (z.B. der Ungare Edi von Csóka, dann Toni Frank und Erwin Buchbinder). Ebenso formierte sich "Dixie Boys" aus jungen ungarischen Musiker im Jahre 1923. Es wird nicht heute möglich sein, alle kulturgeschichtlich relevanten Faktoren so auszuloten, dass jeder Adaptationsversuch, jede Beeinflussung durch
amerikanisches Musikgut restlos erklärt werden kann. Dazu ist einerseits der zeitliche Rahmen des Vortrags nicht angemessen, andererseits fehlt es, wie gesagt, weitgehend an modellhaften Veröffentlichungen, an denen eine Orientierung möglich gewesen wäre. Zu den wenigen, bemerkenswerten Ausnahmen gehört das Buch der Grazer Ragtime-Typologistinen, Frau Ingeborg Harer, "Ragtime - Versuch einer Typologie". Vieles könnte also spekulativ oder einseitig hypothetisch wirken, doch es wurde versucht, die Belege anhand des oft spärlichen Quellenmaterials, (meist aus öffentlichen Archiven und Privatsammlungen wie von dem Wienern Herrn Wolfgang Hirschenberger) so zu ordenen und auszuwerten, dass sich eine Verifizierung dialogisch daraus ergibt. In diesem Sinne sind die originalen Notencovers, unsere mit Herrn Hirschenberger in Kooperation gesammelte und geschriebene, soeben vorgestern in Budapest erschienene "The Chronological Ragtime Discography of The Austro-Hungarian Monarchy", und nicht zuletzt die originalen Tondokumente aus der Monarchie bzw. die vor einigen Tagen mit den ungarischen Pianisten, Georg Vukán gemachte Monarchie-Ragtime-Titel-Aufnahmen als dialogische Ergänzung zur "Afro-amerikanische Einflüsse in der Musik der Österreich-Ungarischen Monarchie".
Nach dieser kleinen Einleitung möchte ich für Sie eine neue Ragtime Aufnahme als
Weltpremier zu präsentieren. Der Komponist, Albert Hetényi-Heidlberg ist im Jahre 1875
in Wien geboren und fast in ganzem Leben lebte er in Budapest, wo er nach der Komponierung
von mehrhunderten Stücke im Jahre 1951 gestorben ist. Sein Ragtime, "Lilly Rag"
war sein Opus 509 und die Noten sind im Jahre 1918 beim Nádor Verlag in Budapest bzw.
Leipzig erschienen.
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1. Albert Hetényi-Heidlberg: Lilly Rag, 3:45.
[Georg Vukán: Dunapalota Ragtime. Hotelinfo-Ferdinandus (H) HSJR 2001 (CD), Track 8]
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Die ersten Jazzhistoriker, zufälligerweise Europäer, pflegten stets die
amerikanischen Herkunft des Jazz zu betonen und befassten sich kaum oder überhaupt nicht
damit, dass die Wurzeln dieser Musizierweise weit in die europäische Volks- und
Kunstmusik hinein. Noch weniger beschäftigten sie sich mit einer Untersuchung der Musik
unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion die auch für die weitere Entwicklung der späteren
Formen eine ausserordentlich wichtige Rolle spielte. In der europäischen Volks- und
Kunstmusik ebenso wie in der sich ausbildenden amerikanischen Musik stand zu allen Zeiten
der gebrauchmusikalische Charakter im Vordergrund. Es ist ja bekannt, dass Johann
Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart oder Fréderick Chopin einen beträchtlichen Teil
ihrer Werke als "Tanzmusik" oder auch "täglichen Gebrauch" und nicht
für das Konzertpodium schrieben. Auch die Frühformen des Jazz wurden als derartige
"Gebrauchsmusik" geboren.
In Europa, bzw. im damals sogenannten zivilisierten Europa des 19. Jahrhunderts zählte
allein schon der Anblick dunkelhäutiger Menschen zu den Sensationen. In vielerlei
Hinsicht traf dies auch auf solche über bedeutende Kolonialreiche verfügende Länder wie
Grossbritannien und Holland zu, selbst wenn es damals in höheren, d.h. reicheren Kreisen
allgemein Brauch war, sich dunkelhäutige Diener oder Zimmermädchen zu halten. Unter
diesen in Haushalten arbeitenden Farbigen wurde auch musiziert, ferner gab es unter ihnen
eine dünne Schicht, die sich ausschliesslich mit Musik und Tanz beschäftigte. Zu Beginn
des 19 Jahrhunderts war es jedenfalls ein Ereignis, und zwar ein sensationelles, wenn eine
umherziehende Zirkus-, Theater-, oder Folklore-Truppe farbige Künstler auftreten liess.
Sowenig es in Amerika gleichgültig war, wer mit welchem Manager und welcher Truppe
zusammentraf, sowenig durfte dieser Gesichtspunkt in Europa vernachlässigt werden. Erst
nach Jahren, unter Umständen Jahrzehnten war festzustellen, ob sich der Künstler gut
verkauft hatte. John Coltrane, einer der bedeutendsten amerikanischen Erneuerer des
modernen Saxophonspiels, erklärte in einem Interview, dass er viele hervorragende
Saxophonisten gekannt habe, die er hoch geschätzt und von denen er viel gelernt habe, die
allerdings nie auf einer Schallplatte verewigt worden seien.
Bei der Aufführung von Szenen aus dem Plantagenleben, bei Vaudeville-Vorstellungen
hing es vom persöhnlichen Geschmack, von der Verbindungen und den Mitteln der
Produktionsmanager ab, in welcher Umgebung ein Musiker, mit welchen theatralischen
Möglichkeiten eine amerikanische Musiknummer ins Programm gelangte. Der damalige
Zeitgenosse konnte ausgeprochen folkloristische Darbietungen (Volksmusik, Volkstänze,
volkstümliche Lebensbilder...) in einem Zirkus ebenso wie in der selbstständigen
Vorführung einer kleineren oder grösseren Folkloretruppe finden. Wesentlich ist
jedenfalls, dass die in Europa, also auch in Ungarn, bald in der ganzen
Österreich-Ungarischen Monarchie auftretenden geschlossenen Ensembles oder auch
Zufallsgruppierungen viel leichter zur Besonderheit wurden als in ihrer Heimat, sobald sie
nämlich ihrer ursprünglichen Umgebung entrissen waren. Die anfänglich als tanzbar
gespielte Musik stellte hier - von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen - nur für die Tänzer
des jeweiligen Ensembles Tanzmusik dar. In Amerika hingegen beteiligte sich das Publikum
aktiv an allen Zusammenkünften geistlicher oder weltlicher Art. Mit Beine-Stampfen,
Umherhüpfen, gemeinsamem Gesang und Tanz beteiligte man sich am Gottesdienst genauso wie
etwa an einer Vaudeville-Darbietung oder an einer musikalischen Posse. Bei solchen
Veranstaltungen blieb die Hörerschaft im monarhistischen Doppelstaat dagegen passiver
Betrachter. Gefallen, Ergriffenheit oder Anteilnahme brachte man nicht durch aktives
Mitmachen, sondern gegebenenfalls durch Applaus zum Ausdruck. In dieser grundlegend
andersartigen Einstellung können wir eine Ursache dafür sehen, dass den Vorfahren des
Jazz, später in seinen verschiedenen Stilrichtungen jenes eigentümliche Echo zuteil
wurde und auch dafür, dass ihnen jene Abstempelung durch Kritiker widerfuhr. Für
ungarische Kritiker, zum Beispiel, war es eben wichtiger, wo eine Vorstellung stattfand
als was und wie man spielte. Im 19. Jahrhundert wurde im Musikleben Ungarns alles offener,
auch öffentlicher. In der zweiten Jahrhunderthälfte zeichneten sich immer mehr Solisten
aus. Ede Reményis Violin- und Franz Liszt's Klavierkonzerte fanden in aller Welt grösste
Anerkennung. Eine Wechselwirkung zeigt uns die Aufnahme der Hladisch-Salon-Kapelle aus
Prag. Die Quelle des "Rhapsody Rag"s kommt aus dem Feder von Franz Liszt, aus
der "Zweiten Ungarischen Rhapsody". Diese Komposition von Liszt war unglaublich
populär in den Staaten und einige Motiven des Stücks kann man u.a. als die Begleitstimme
eines Spirituals hören...
Diesmal hören wir eine Ragtime-Variation aus den guten alten Zeiten.
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2. J. Lenzberg: Rhapsody Rag. Salonkapelle Hladisch. 2:13
[Union Record 123 (78), Supraphon (CS) DV 10177/8 (D-LP)]
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Besonders müssen wir uns mit der volkstümlicher Musik befassen, die in erster Linie
für den Mittelstand (Kleinbauern, Soldaten, Beamte), aber auch für die sich ausbildende
Schicht der Intellektuellen eine geschätzte Gattung war. Der Kult der ungarischen Weise
enstand im wesentlichen durch Unterhaltungskunst (ungarisch: "cigányozás" =
etwa "das Zigeunern"), sowie durch Einlagen in Volkschauspielen. Der Einfluss
all der langsamen Stücke (ungarisch: "hallgató" = Stück "zum
Zuhören") und all der aus rhytmischer Trommelmusik entstandenen Csárdásweisen ist
zur Gänze bis in unsere Tage wirksam. Unter der Interpreten ungarischer Weisen spielten
die Zigeunermusiker eine herausragende Rolle. Ihr Schicksal ist weitgehend mit dem ihrer
farbigen Zeitgenossen in Amerika vergleichbar. Als eine der wenigen echten Möglichkeiten,
die ärmlichen Verhältnisse ihres Alltags zu verlassen blieb ihnen fast ausschliesslich
das Musizieren. Im 18-19. Jahrhundert wirkten in Ungarn zahlreiche Zigeunerkapellen, die
neben den traditionellen Instrumenten (Geige, Bratsche, Cello, Bass, Klarinette) auch
Blechbläsern ausgestatteten Orchesters spielten in vielen Fällen nicht nur Volkmusik
(oder besser volkstümliche, volkstümelnde Musik), sondern z.B. auch Walzer oder Polkas.
Viele Zigeunerorchester fungierten auch als Militärkapellen. Auf dem Schlachtfeld
feuerten sie die Truppe zum Angriff an. Auch in ruhigeren Zeiten spielte man Marschmusik.
Ihre Rolle in der Entstehung von Unterhaltungsmusik für die Offiziere bzw. für die
Garnison in der Doppelmonarchie darf hier nicht vergessen werden.
Das Vaudeville, d.h. "Klang der Stadt" wuchs aus den selben Wurzeln, wie das
französische Chanson. Im 19. Jahrhundert etablierte es sich unter französischem Einfluss
in den englischen Music Halls und bei den amerikanischen Wandertheatern. In ihren
Vorführungen waren Tanz, Akrobatik, Liedervorträge (englische Balladen, französische
Chansons, Couplets, amerikanische Strassenlieder und auch eine bunte Mischung von alldem
innerhalb einer einzigen Komposition) wesentliche Elemente, wie es auch Minstrels als
Karikatur negroiden Lebensstils waren. Das Vaudeville ist die älteste noch heute
existierende Form amerikanischer Vortragskunst. Viele Bluessänger und frühe Jazzmusiker
kamen durch Vaudeville-Ensembles nach Amerika. Aus dem Vaudeville gingen die Burleske und
der Sketch hervor, die in der Stummfilmzeit besondere Popularität erreichen sollten. An
ihrer musikalischen Begleitung hatten Ragtime-Pianisten und auch frühe Jazzbands Anteil.
Einer der inspiriertesten frühen Vaudeville-Interpreten, Ira Aldridge, debütierte in den
1850er Jahren mit grossen Erfolg in der Monarchie. Im Pester Nationaltheater spielte er
zuerst die Rolle des Othello, dann Machbeth. Ira Aldridge war im Grunde keine
musikalischer Schauspieler, aber er bestand darauf, dass allabendlich nach den
Skakespeare-Aufführungen - sozusagen als Zugabe - ein kurzes Vaudeville vorgestellt
wurde. Ab 31. März 1853 spielte und sang er mit seinem eigenen Ensemble neben Othello und
Machbeth die Rolle des Mungo in Isaac Bickerstaffes Vaudeville "The Padlock"
(Das Vorhängeschloss). Am 30. August derselbes Jahres wurde "The Padlock" als
Neuaufführung im Nationaltheater gebracht. Diesmal stellte sich Aldridge ohne seine
Truppe ein. Statt dessen spielte man das Stück unter Mitwirkung ungarischer Schauspieler
wie Sándor Szilágyi, János Hubenay und verschiedener weiblicher Darsteller. Unter
Anleitung eines authentischen farbigen Interpreten lernten die ungarischen Schauspieler
und Sänger die Geheimnisse des Vaudeville kennen. Der Erfolg war ein ganz eindeutiger.
Nichts beweist dies besser als die Veröffentlichung von vier Aldridge Stücken als
Publikation der Firma Rózsavölgyi, die damals erst seit zwei Jahren bestand und, wie
andere inländische Musikverlage, mit ihren ersten Gehversuchen beschäftigt war. Die vier
Nummern hatte Aldridge im "Padlock" gesungen. Sie stellen die erste Herausgabe
amerikanischen Notenmaterials auf österreich-ungarischen Boden dar. Bisher sind drei
Versionen bzw. Auflagen davon bekannt. Nach einer längeren Pause konnte das Publikum des
Nationaltheaters, Aldridge 1858 erneut sehen. Auch diesmal hatte er kein eigenes Ensemble,
es kam statt dessen zu einer Zusammenarbeit mit den von früher bekannten ungarischen
Künstlern. Nach dem farbigen Ira Aldridge besuchten - ähnlich wie in anderen Ländern -
weisse, kreolische und schwarze Tourneetruppen Ungarn, bzw. die Österreichisch-Ungarische
Monarchie. Wer an dieser Art von Vortragskunst speziell interessiert war, hatte praktisch
in jeder Stadt der Doppelmonarchie nahezu optimale Möglichkeiten, solchen Vostellungen
beizuwohnen. Geschichtlich gesehen, ist hier also auch die Frage wichtig, welche Künstler
während dieses Zeitraumes in der Kaiserstadt, nämlich Wien auftraten oder wer in Pest,
Buda, dem kurz darauf vereinigten Budapest, sowie in Raab, Kaschau usw. zu sehen war. Es
wäre wichtig zu wissen, was die zahlungskräftige Schicht sah und hörte, eine Schicht,
die sich für solche Exotismen wie eine Minstreltruppe interessierte und die unter dem
Begriff Unterhaltung nicht nur in Tränen ausbrechen wollte, etwa auf die Musik der als
"National" bezeichneten Zigeunerorchester. Ab 1886 können wir die Spuren der
Auftritte afro-amerikanischer Unterhaltungskünstler in der Monarchie verfolgen. Bei den
Mehrzahl der Varietenummern der grössere Städte handelte es sich um Clownakte,
Fahrradakrobaten usw. Einen sehr wichtigen gemeinsamen Nenner hatten sie alle: Die Noten
für ihre Begleitmusik brachten sie stets selbst mit, sodass die örtliche Musikkapelle
vom Blatt zu spielen hatte. Sehr oft handelte es sich bei dieser Musik nicht um
abgedroschene kunstmusikalische Stücke europäischer Prägung, sondern um Minstrel-,
später Cake Walk- und Ragtimenummern amerikanischer Musikverlage. Eine der Triebfedern
für den Erfolg der Tänzer, Komiker, Clowns, etc. war jene andersartige Musik. Viele
Kapellmeister und Musiker wurden durch diese damals noch ziemlich ungewöhnliche Musik
regelrecht ins Schwitzen gebracht. Nach Ira Aldridge's Neger-Liedern deuteten die Stücke
ungarischer Komponisten zunächts nur im Titel auf neuere Zeiten hin, so im Jahre 1873:
Kreolenmarsch von Wilhelm von Asbóth. Später hingegen empfand man den Charakter der
Musik schon recht gut nach. Diese zeigen vor allem die Rag-Stücke von Aladár Székely.
Am 18. Juni 1886 kündigte das Orpheum in Budapest den Auftritt des Negerkomikers, Mr.
Mackwey an. Der Kapellmeister des Abends war Ödön Rosner. Das als grosse Konkurrenz
werbende Beliczay-Kaffeehaus gab knapp zwei Jahre später das Auftreten Tom Luisetts, des
"original Negerkomikers" bekannt. Der Kapellmeister des Abends, Wilhelm
Rosenzweig wurde zu einer Schlüsselfiguren der nachfolgenden Jahrzehnte: Dirigent,
Kapellmeister, Arrangeur. Mit all seinen Qualitäten war er beteiligt an jenen
Produktionen, die in die Richtung der Vaudeville-, Ragtime und später der jazzige Sachen
wiesen.
Leo Bundicks, früher Leiter der American Negro Jubilee Singers, organizierte unter dem
Namen "The Ethiopien American Serenaders" ein neues Ensemble. Zwei Jahre
hindurch bereister er damit die Welt und kolportierte so das Erbe afro-amerikanischer
Kultur. Sämtliche vier Mitglieder der Gruppe sangen und tanzten. Leo Bundick spielte
Klarinette, George Kelly war der erste Tänzer. Die beiden Damen, Anna Edwards und Carrie
Granier zeichneten sich in erster Linie als Sängerinnen aus. Nebenbei spielten alle vier
noch auf Blechblasinstrumenten, sowie Banjo, Gitarre und Mandoline. Vom 1l. bis 30. April
1895 traten sie im Budapster Hotel Metropole als "The Bundicks, Ethiopian
Serenaders" auf. Durch sehr viele ähnliche Produktionen gelangte der später zum
richtigen Jazz führende Vortrag in die Monarchie. Nach dem Glanz und Pracht der
Milleniumaustellung in Budapest kamen und gingen fortwährend amerikanische und andere
farbige sowie weisse Unterhaltungskünstler: Musiker, Tänzer... Ob sie zwei Wochen, ein
halbes Jahr in der Monarchie blieben hing weitgehend davon ab, inwieweit es ihnen gelang,
dem Geschmack und der Mentalität des hiesigen Publikums der Doppelmonarchie zu
entsprechen. Während der nächste Jahrzehnte gab es ständig derartige Gastauftritte.
Die amerikanischen Märsche hatten in der amerikanischen wie der europäischen
Vorgeschichte des Jazz besondere Bedeutung. Die Militärorchester der
Österreich-Ungarischen Monarchie übernahmen - wenn auch nur nach und nach - diese
Märsche, vor allem die von Sousa - insbesondere nach den Europatourneen des Komponisten.
In den Notemagazinen der Monarchie publizierte man u.a. die Klavierfassung des Sousa
Marsches "The Washington Post". Auch die bürgerlichen Kapellen spielten
Brass-Band-Musik.
Die Jagdausstellung Manhatten-Kapelle unter der Leitung von Dr. Phillip Silber gibt uns
eine Einleitung zur Cake Walk Epoche.
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3. Robert Vollstedt: Eine vergnügte Negerhochzeit. Cake Walk, Op.215. Jagdausstellung
Manhatten-Kapelle unter der Leitung von Dr. Phillip Silber,1910
[Premier (A) K 10030 (78), Ragtime unter dem Doppeladler 1901-1928. RST (A) 90284251
(LP)]
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Der mit Beinen gestampfte Rhythmus, das rhytmische Schlagen durch einzelne als
Instrumente verwendete Körperteile findet sich in den Traditionen zahlreicher Völker.
"Juba" und "Jig" haben ihren Ursprung in den Stammesriten
sudanesischer Neger. Die Wurzeln des tap dance (deutsch: Steptanz) sind in holländischen,
deutschen wie auch schottischen Holzschuhtänzen zu finden, ebenso aber im ungarischen
Csárdás, Verbunkos, Toborzó sind von diesen Traditionen beeinflusst. Es ist kein
Zufall, dass in Europa gerade die ungarische Zigeunermusiker Wegbereiter des Jazz, die
wichtigsten Verbreiter des Cake Walk, Ragtime und verwandter Formen waren. Die
zeitgenössige Tanzformen kamen den sehr adaptationsfreundigen Zigeunermusikanten
geradenrecht. Zigeunerorchester, die sich fast vom ersten Augenblick an von der
ursprünglichen Zigeunerfolklore entfernten, die auch den Schnellcsárdás als ihre eigene
Volksmusik spielten, erfüllten (ähnlich wie Gesellschaftsorchester der kreolischen
Musiker, die Society-Orchestras) eine verbindende Rolle in Ungarn ebenso wie in
zahlreichen europäischen Ländern und im Zarenreich Russland. Rudolf Lavotta, der
ungarische Komponist wies bereits 1912 auf diese Zusammenhänge hin. Eben aus diesem Jahr
stammt unsere Zigeunermusikaufnahme, wo der kaiserliche und königliche Hoftanzmusiker,
Béla Berkes & His Gypsy Band spielt den "Hitchy-Koo", diesen heutzutage zu
wenig gespielten Ragtime-Stück.
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4. Lewis Muir-Maurice Abrahams: Hitchy Koo
Regal (GB?) G 6067 (78). Hungarian Jazz 1912-1948. Pannonton (H) JL 104 (LP)]
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Zur Veröffentlichung und Popularisierung dieser Musik gesellte sich das
geschäftliche Interesse vieler amerikanischen Musikverlage. Diese Verleger waren freilich
nicht jene, welche die Werke solcher amerikanischen Komponisten veröffentlichten, die
heute zum Vorfeld gezählt werden. Die Kompositionen Scott Joplin's und einiger heute
hochgeschätzter, vielleicht auch überschätzter, Ragtime-Pianisten und Komponisten waren
für das Publikum im allgemeinen noch nicht erhältlich. Dieser Umstand darf bei der
Beurteilung der zeitgenössigen europäischen Ragtime-Musik und der europäischen
Vorgeschichte des Jazz nicht unberücksichtigt bleiben. Dass es zur Zeit der Monarchie
eine Nachfrage nach Cake Walk, Ragtime und verwandten Formen gab, wird durch die
Veröffentlichung ziemlich vieler amerikanischer Stücke in ungarischen beteiligten, oder
ungarischen Musikverlagen deutlich. Einzelne Kompositionen erschienen bei mehreren
Verlegern in einigen Dutzend oder noch mehr Ausgaben. Unter diesen Musikstücken finden
wir nicht wenig, auch an heutigen Kriterien zauberhafte Kompositionen. Dasselbe gilt für
den Ragtime und die Ragtime-verwandten Werke ungarischer und österreichischer
Musikautoren. Die Tätigkeit der sogenannten zweiten Ragtime-Generation, George Botsford,
Charles Neil Daniels, Kerry Mills und ihrer Mitstreiter war sehr wichtig. Ohne sie wäre
der Ragtime nicht wirklich bekannt und populär in Europa geworden. Ihre Kompositionen
erschienen in der Doppelmonarchie zur selben Zeit wie in anderen europäischen Ländern.
Mit Monarchie-Interpreten auf Schallplatte festgehalten, zeigen ihre Stücke die seltsame
Situation, in der die europäischen Vortragenden diese Kunstgattung ernst ausschliesslich
durch das Notenmaterial kannten. Bereits am Beginn der 1900 Jahre betätigten sich an
etliche österreichisch-ungarische Unterhaltungstätten solche Pianisten, Aladár
Székely, Albert Hetényi-Heidlberg, Sándor Rozsnyai, die aus den verschiedensten Ecken
der Monarchie stammten, dann Salonorchester (vor allen die Kapelle Geigerbuben),
Zigeunerorchester (Béla Berker Jr., Edy von Csóka), dann die verschiedenen K.u.K.
Infanterie-Regiment-Orchester, die Cake Walks, Ragtime, bald auch Two Steps und Foxtrotts
spielten. Einer der bedeutendster Meister der sogenannten Popular-Ragtime war die
vorwiegend unter dem Pseudonym Neil Moret publizierende Komponist und Musikverleger
Charles Neil Daniels aus Kansas. Er arrangierte unter anderen auch Scott Joplins 1899
veröffentlichtes Original Rags betitelten Stück, welches Joplin erste in Noten erschiene
Komposition war. Von dem Neil Moret's Welterfolg Hiawatha entstanden auch in der
Österreich-Ungarischen Monarchie viele Aufnahmen. Aus diesen möchte ich jetzt für Sie
die Aufnahme der Kapelle der K.u.K.Infanterie-Regiment "Freiherr von Probszt"
No. 51, unter der Leitung von Anton Kutschera präsentieren. Das Aufnahmejahr ist 1906.
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5. Moret: Hiawatha 1906
[Ragtime unter dem Doppeladler 1901-1928. RST (A) 90284251 (LP)]
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Eine vaudeville-Einlage im Zirkusprogramms waren häufig. Barnum & Bailey z. B. im
April 1901 stellten sich das "Nigger-Quartett" und Miss Beatrice, die
jugendliche Sopransaxophonistin in Budapest vor. Die in New York gegründete
Vaudevile-Truppe, die Louisiana Amazon Guards nahm eine wichtige Rolle in der
europäischen Vor-Jazzgeschichte. Ihnen folgte dann u.a. Neger-Banjovirtuose Edgar Jones
und damit erreichte das Solobanjofieber auch die Monarchie. Er spielte hauptsächlich Cake
Walks und bereitete damit für den Tanzfieber, das nach Paris, London und Berlin 1903 auch
in der Monarchie ausbrach. Tourneetruppen aus Florida, Kalifornia, New York usw. sangen,
spielten, tanzten den Cake Walk. Übermütige Twens ebenso wie die schon zu den Matronen
und alten Herren geltenden 30 und 40jährigen lernten und tanzten auf den Hauspartys den
drolligen Cake Walk, der alle Traditionen verhöhnte. Sári Fedák, die ungarische
Operettenprimadonna am Mai 1903 hatte eine Gelegenheit, sich in einer Rolle vorzustellen,
die ihr ganz auf den Leib geschrieben worden. Titel der Gesangposse war "Fräulein
Wirbelwind". Fedák's grosse Nummer war ein Cake Walk des amerikanischen Songwriters
Hughie Cannon, betitelt "Bill Bailey, Won't You Please Come Home". Fedák's
Gesang und Tanz waren gleichermassen Volltreffer. Kein Wunder war, dass die
Notenhersteller und Musikhandlungen ausreichend mit Klavierauszügen und
Zymbaltranskriptionen versorgen konnten.
Das bekannteste und renommierteste Vaudeville-Duo des Pre-Jazz-ära war Johnson &
Dean. Ihre Eleganz, die Virtuosität ihrer Tänze, ihre originalen Kombinationen wurden
gleichermassen geschätzt. Das Duo hatte fünf ausgedehnten Tournee in der Monarchie und
im Laufe der Tours füllten sie nur in Budapest etwa die Zeit eines vollen Jahres als
ertsrangige Attraktion der Nachtleben der ungarischen Hauptstadt. Mit einer feinen
Aufnahme von Georg Vukán möchte ich einen Abschied sagen. Ich weiss, dass noch sehr
viele geöffnete Fragen sind. Auch ich probiere die dementsprechende Antwort befinden.
Auch Sie können nachdenken. Die Aufnahme stammt aus der November-Sitzung von Herrn
Vukán. Die Komposition ist der Opus 1 von Aladár Székely, die im Jahre 1919 die erste
Ausgabe hatte. Ein prächtiges Stück und Georg spielt virtuos.
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6. Aladár Székely: Pension Rag
[Georg Vukán: Dunapalota Ragtime. Hotelinfo-Ferdinandus (H) HSJR 2001 (CD), Track 14]
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Vielen Dank für die Möglichkeit für die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Graz. Institut für Jazzforschung |